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Was aus dem Mund raus ist, ist raus

Wir müssen mehr, nicht weniger miteinander reden, schrieb ich 2015. Heute, in Zeiten digitaler Kommunikation, die durch die Pandemie teilweise zur alleinigen Kommunikationsform geworden ist, sprechen wir immer weniger direkt miteinander. Der Bezug zum anderen geht verloren.

Kennen Bildschirme Empathie?
Virtuelles Kaffeetrinken wird immer unbefriedigender, weil kein Zwischenraum entsteht, um sich aufeinander zu beziehen und auf die Gedanken des anderen einzugehen.

Sind wir dabei, unsere Empathiefähigkeit zu verlieren? Wir brauchen das Echo, die empathische Widerspiegelung, um nicht in der Innenwelt des eigenen Ichs eingesperrt zu werden. Im Zuhören reflektieren wir die Gedanken. Es ist der Spiegel, in dem wir uns in dem anderen erkennen.

Bildschirme kennen keine Empathie

In Videokonferenzen wird der Sprechende zum Sender. In vielen Firmen finden Videokonferenzen ohne Kamera statt, um Datenvolumen zu reduzieren. Der Sender sieht seine Empfänger nicht. Vielfach arbeiten die Teilnehmer der Sitzung weiter, während sie "online" im Meeting sind.

Der Sender sendet ohne Bezug in den digitalen Raum.
Wie ein Schiffbrüchiger nicht weiß, ob sein SOS Signal aufgefangen wird, weiß der Sender nicht, was beim anderen ankommt. Das einseitige Sendeverhalten schlägt sich bereits im Vokabular nieder, wenn Mitarbeiter sagen, "ich habe alles abgesetzt" oder "ich hatte noch 10 Minuten, meine Sachen zu adressieren". Adressieren ohne den Bezug zum Adressaten ist ein-Weg-Kommunikation. Weil der Sender keinen Bezug zu seinem Gesprächspartner hat, verliert er auch den Bezug dazu, ob etwas beim anderen angekommen ist.

Jeder Versprecher, jedes laute Denken, jede Entwicklung und Ausarbeitung, ja das Ausbreiten der Gedanken vor dem digitalen Auge des Zuhörenden macht den Sprechenden verletzlich. Angreifbar. Verwundbar. Ohne Empathie ist es das Gefühl von ausgeliefert sein.

Etliche verlieren mittlerweile auch den Bezug zu sich selbst und können nicht mehr einschätzen, wie laut, wie lange, wie schnell sie reden, wenn sie in das digitale Nichts sprechen.
Ohne sich aufeinander zu beziehen, entsteht nichts zwischen Menschen.

Vom Teddy zum Bildschirm

In digitalen Formaten, wie wir sie zur Zeit beruflich und auch privat nutzen, müssen wir lernen, die virtuelle Welt mit Emotionen zu überziehen.
Das scheint nicht weiter schwer zu sein, kennen wir doch alle noch aus Kinderzeiten, wie wir zu Teddybären, Puppen, ja, Kopfkissen, Nuckeldecken und Trinktassen, zu Steinen und Stühlchen, emotionale Beziehungen aufgebaut haben.

In der klassischen Rhetorik finden wir Übungen, sich in unbelebte Natur hineinzuversetzen und eine Beziehung aufzubauen, um die Bandbreite emotionaler Ausdrucksfähigkeit zu erhöhen.
Heutige Achtsamkeitsübungen leiten die Übenden an, sich in die Natur, die Blume, den Duft, die Weicheit der Luft, das Gras unter den Füßen hineinzuversetzen.

Perspektivwechsel sind im Führungsalltag ein wichtiges Instrument, die andere Seite mit ihren Argumenten zu verstehen. Auch hier wird durchaus die Perspektive unbelebter Natur eingenommen, um beispielsweise ökologische Gesamtzusammenhänge besser zu verstehen.

Als soziale Wesen sind wir in der Lage, emotionale Beziehungen zu allem, was um uns ist, aufzubauen. Wahrscheinlich auch zum Bildschirm. Aber wahrscheinlich der Bildschirm nicht zu uns.

Technologie und Selbst

Sherry Turkle, Wissenschaftlerin und Professorin am MIT und Gründungsdirektorin der MIT-Initiative für Technologie und Selbst, erforscht, wie unser Denken und Fühlen und Handeln verarmen, wenn wir Gespräche reduzieren und, statt miteinander zu sprechen, lieber texten.

Turkle führt aus, dass ihre Studierenden mehr texten als sprechen, dass sie lieber nicht zur Uni kommen, dass sie lieber eine perfekte E-Mail schreiben und lieber eine perfekte Antwort-Mail von ihrer Professorin erhalten wollen.

Ihre Schlussfolgerung aus diesem beobachteten Verhalten: "... what the students want is a transactional not a relational model." Die Beziehung zwischen Mensch und Mensch geschieht nicht in einer E-Mail, so Turkle weiter, und der Wunsch der Studierenden, gut zu sein und es richtig zu machen, würde dazu führen, dass sie der beziehungsorientierten face-to-face- Kommunikation ausweichen.

Keine direkten Gesprächen, um nichts Falsches zu sagen

Im Büro oder im Home Office sitzen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hinter einem oder mehreren Bildschirmen, geben Daten ein, nehmen an Videokonferenzen teil, schreiben Mails, texten auf diversen Kanälen - auch wenn der Kollege nebenan am Schreibtisch sitzt und es vielleicht nur um die Frage geht, wie die Mobilnummer von X ist.

Sherry Turkle hat Beschäftigte in US amerikanischen Firmen befragt, warum sie das Gespräch vermeiden. Sie fasst die Antworten zu der Aussage zusammen: "I'll tell you, what's wrong with conversation. It takes place in real time and you can't control what you are going to say. Online we can control our time, we can edit ourselves to get things right. We can retouch."

Was gesagt ist, ist raus aus dem Mund und kann nicht zurückgeholt werden.

Die Studierenden scheuen das direkte Gespräch und bleiben im geschützten Raum hinter dem Screen und senden ihre Gedanken per E-Mail. Wenn der Mensch vergisst, einen Bezug zum anderen herzustellen, entsteht auch keine Beziehung zum Gegenüber, und dann entsteht auch keine Empathie, keine Emotion, dass da (noch) ein Mensch im digitalen Raum ist.

Dann kann es passieren, dass wir bloß noch fertige end- und zielgerichtete Aussagen auf den Punkt bringen; das allerdings ist selten kreativ. "Auf den Punkt gebracht" ist, wenn es gut geht, das Ergebnis langen Nachdenkens. Wer ausschließlich und stets "auf den Punkt gebrachtes" sagt, repetiert den Punkt. Neues entsteht kaum.

Intensität der Briefkultur

Denken wir an die lange Tradition des Briefe schreibens, so stellt sich sofort die Assoziation intensiver Bindung und emotionaler Beziehungen zwischen den Schreibenden ein. Hier ist ein Bezug, eine Intensität, eine Welt des Miteinander vorhanden. Nicht selten ist diese intensiver und realer, als in der wirklichen Welt, denken wir an Kafka's Liebesbriefe.

Wollen Menschen sich erproben, erkunden, sich austauschen und um Einsichten und Ansichten ringen, stellen sie einen Bezug her, zu sich selbst und zu anderen. Als soziale Wesen sind wir hungrig nach sozialen, emotionalen Bezügen. Eine zwischen-menschliche Beziehung ist ein schützender Raum und Widerhall, innerhalb dessen Menschen sich zuhören und produktiv sein können.

Es sind kreative und schöpferische Momente, wenn Menschen in Bezug zueinander Gedanken austauschen und entwickeln.

Wir brauchen das Echo des anderen Menschen

Im direkten Gespräch kann ich den Widerhall meiner Worte ablesen im Ausdruck, in der Mimik, im Tonfall und in den Worten des Gegenüber. Sie spiegeln mir, wie mein Fühlen, Denken und meine Worte beim Gegenüber angekommen sein könnten. Und ich kann unmittelbar darauf reagieren und korrigierend oder ergänzend eingreifen.

Die Technik treibt die Menschen vor sich her. Wenn wir uns von ihr das Menschsein befehlen lassen, indem wir der Robotik nacheifern oder Roboter als Menschen deklarieren, vergessen wir, dass wir lebendige, kreative Wesen sind.

Je mehr wir unsere Sprache, unsere Vokabeln, unsere Grammatik reduzieren, desto mehr reduzieren wir Emotionen, Denken und Sprechen.

Und wir verlieren das Wissen über menschliches Leben und Sein, weil wir es nicht mehr ausdrücken (können).